Das geistliche Werk Ludwig van Beethovens

Von Birger Petersen
»Brüder! Überm Sternenzelt  muss ein lieber Vater wohnen.«

Die Verse aus Friedrich Schillers Ode An die Freude, die Beethoven im Schlusschor seiner Neunten Symphonie vertonte, verweisen doppelt auf den potentiell geistlichen Gehalt seiner Musik: Abbild seiner eigenen Religiosität einerseits, vermag sie andererseits zur Heiligsprechung des Komponisten zu verleiten. So schreibt Richard Wagner in seiner Pilgerfahrt zu Beethoven ganz ohne Ironie: »Mir für mein Theil war der Himmel geöffnet; ich war verklärt und betete den Genius an, der mich ­– gleich Florestan – aus Nacht und Ketten in das Licht und die Freiheit geführt hatte.«[1] Ludwig van Beethoven, dessen 250. Geburtstag im Jahr 2020 zu begehen ist, komponierte drei große geistliche Werke für Chor, Solisten und Sinfonieorchester: ein Jesus-Oratorium und zwei katholische Messen. Während das Oratorium in wenigen Wochen entstand, dauerte die Arbeit an der Missa Solemnis fast vier Jahre. Beethoven hielt sie für sein bestes Werk; mit der Messe in der Hand ließ er sich porträtieren. Beethovens dezidiert geistliches Werk ist – verglichen mit dem breiten Spektrum seiner anderen Kompositionen – klein, aber dessen Schwerpunktsetzung ist überaus interessant.[2]
Auftakt: Die frühen Bonner Kantaten
Auch wenn sie keine geistlichen Werke sind, stehen am Beginn dieser Betrachtung die beiden »Kaiserkantaten« aus der Bonner Zeit: Sie repräsentieren die Kunstfertigkeit des jungen Ludwig van Beethoven. Fast ein Jahrhundert sollte vergehen, ehe zumindest eine der beiden Kantaten uraufgeführt wurde: am 23. November 1884 in Wien, nachdem der Kritiker Eduard Hanslick die Kopistenabschrift der beiden Werke im Nachlass des Beethoven-Freunds Johann Nepomuk Hummel aufgefunden hatte. Zum ersten Mal veröffentlicht wurden sie 1888 in einem Supplement-Band der Alten Beethoven-Gesamtausgabe. Das Urteil über den Rang der Kompositionen aus Beethovens frühem Schaffen war nach deren Wiederentdeckung lange nicht einhellig – was auch daran lag, dass es kaum Aufführungen gab: Zu sehr waren die Kantaten an die Anlässe ihrer Entstehung gebunden. Zu betrachten ist zunächst das geistige Bonner Umfeld, in dem Beethoven ausgebildet wurde: Am Hof des Kurfürsten Maximilian in Bonn herrschte ein liberales Klima; hier wurde er vom Hoforganisten Neefe unterrichtet, dessen Stellvertreter er werden sollte. Neefe war – wie viele andere Hofmusiker – Mitglied der Bonner Loge und sogar deren Vorsitzender. Beethoven lässt sich mit der Loge nicht unmittelbar in Zusammenhang bringen, was  mit seiner problematischen Familiensituation zusammenhängen mag: Beethovens Mutter starb 1787 und sein Vater war Alkoholiker. Beethoven erhielt vom Kurfürsten nach der Entlassung seines Vaters die Verfügungsgewalt über die Hälfte der väterlichen Pension: Er wurde de facto zum Familienoberhaupt und hatte für die Angehörigen seiner Familie – darunter für seine jüngeren Geschwister – zu sorgen.
Dass die beiden ersten Kantaten Beethovens aus dem Jahr 1790 offizielle Anlässe haben, ist so nicht weiter verwunderlich – für einen Komponisten, der zum kurfürstlichen Hofstaat gehörte: Sie entstanden zum Tod Kaiser Josephs II. und zur Kaiserkrönung von dessen Nachfolger Leopold II. Beide Texte hat vermutlich der Bonner Theologiestudent Severin Anton Averdonk verfasst – jedenfalls legt dies eine stilkritische Analyse des Texts nahe, der in beiden Fällen voll trivialem Schwulst steckt.[3] Beide Herrscher waren mit dem Kölner Kurfürsten Maximilian Franz unmittelbar verwandt: Joseph II. war ein Bruder, Leopold II. ein Vetter des Kurfürsten.  Kaiser Joseph II. war am 20. Februar 1790 an einer Tuberkulose-Erkrankung verstorben; die Todesnachricht traf vier Tage später im Rheinland ein, und die Bonner »Lese- und Erholungsgesellschaft« beschloss, ihm zu Ehren eine Trauerfeier abzuhalten…