Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

sie war eine der Kantorinnen, die im FORUM KIRCHENMUSIK normalerweise keinen Nachruf oder einen Gratulations-Text zum 75. Geburtstag bekommen. Das von ihr über drei Jahrzehnte versorgte Kantorat einer kleineren Stadtteil-Kirche hatte nicht die überregionale Ausstrahlung, die (vor allem aus Platzgründen) üblicherweise für solche Texte bzw. Nachrufe vorausgesetzt wird.
Vor mittlerweile 30 Jahren pensioniert, unverheiratet und ohne nahe Verwandschaft, gab es schlicht keine Weggefährten mehr, die zu ihrer Trauerfeier Mitte Mai oder zur Beisetzung wenige Tage später kommen konnten. Dafür erschienen und musizierten jedoch zahlreiche ehemalige Mitglieder ihrer Ensembles, von denen nicht wenige in der und durch die bei ihr erlebte Musik ihre Berufung und ihren Beruf gefunden haben. Die Trauergäste reisten von weither an, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Verglichen mit dem aus Irland herbeigeflogenen Musikwissenschaftsprofessor waren meine (nicht nur) musikalisch bei der Kantorin aufgewachsene Frau und ich – wir beide hatten uns bei ihr kennengelernt – mit 600 Richtungskilometern nicht einmal die am weitesten angereisten.
Soviel zum Thema „nicht überregional ausstrahlend“.
In Königsberg geboren und durch den Krieg vertrieben, machte sie 1948 Abitur, was damals für Frauen und zumal für Vertriebene durchaus nicht selbstverständlich war. Der Ausbildung zur Klavierlehrerin fügte sie noch eine Ausbildung zur Kirchenmusikerin an der Bremischen Musikschule an und arbeitete dann zunächst als Gemeindehelferin und Kirchenmusikerin mit, laut Arbeitsvertrag, einem freien Nachmittag und Abend in der Woche und einem freien Tag im Monat. Neben der Chorarbeit baute sie gemeinsam mit einer ehrenamtlichen Kraft eine große Bläserarbeit mit Jungbläserausbildung auf, fuhr mit ihren Gruppen auf jeden Kirchentag und sorgte dafür, dass viele Kirchentagslieder in ihrer Gemeinde eine Heimat fanden. Daneben unterrichtete sie – selbstverständlich ohne Honorar – junge Menschen aus ihrer Arbeit auf dem Klavier, in Musiktheorie oder was gerade gebraucht wurde.
Dabei war sie, theologisch hoch gebildet, für die Geistlichkeit nicht immer eine pflegeleichte Partnerin, weil sie einfach nicht bereit war, sich kommentarlos auf jeden theologischen und / oder liturgischen Unsinn einzulassen.

Sie lebte in einer winzigen Wohnung im an die Kirche angebauten Gemeindehaus und gab ihr Geld für Noten, Instrumente und vor allem für originale Chagall-Lithografien und -Radierungen aus, die sie kostenlos an Gemeinden für Ausstellungen verlieh – und testamentarisch festgelegt auch weiter verleihen wird (Kontakt: Klosterkammer Hannover). Nach ihrer Zurruhesetzung zog sie mit Cembalo, Spinett, Flötensammlung, Noten und Büchern in eine kleine Kloster-Wohnung auf dem Land. Ohne je Fernsehen oder Internet besessen zu haben, war sie bis zum Schluss an der Welt und ihrer Kultur interessiert. Als meine Frau ihr telefonisch berichtete, dass wir erstmalig im finnischen Karelien Urlaub machen würden, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen: „Oh, dann solltet ihr zum Opernfestival nach Savonlinna fahren, da gibt es in diesem Jahr eine sehr eindrucksvolle Inszenierung von …“ Da war sie 90.
Dieses Editorial widme ich all den Kolleginnen und Kollegen, die auf den „nicht-überregional bedeutenden“ Kantoraten und Kirchenmusik-Stellen ein ganzes Berufsleben lang Menschen erreicht, für ihr Leben geprägt und sie für die Kirche
und ihre Musik begeistert haben. Kolleginnen und Kollegen, die sich mit großer Loyalität und dennoch nicht unkritisch für ihre Kirche eingesetzt haben.
So wie Christa Krämer (1928–2024), Kantorin an der Bremerhavener Kreuzkirche
von 1962 bis 1994. Danke!
Ihr (und Dein)

Carsten Klomp

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