Beobachtungen im Umfeld der Schlusschoräle von Bachs Kantaten Von Stefan Gehrt

Die Ausführung der Schlusschoräle in Bachs Kantaten wird vergleichsweise selten thematisiert. Folgende Fragen spielen dabei eine Rolle:

– Wie können wir uns das Tempo der Choräle zur Bachzeit vorstellen?

– Wie gestaltete sich die Praxis der Zeilenzwischenspiele (1700 – 1900)?

– Wie wurden Choräle auf der Orgel damals registriert und gespielt?

– Waren die Gemeinden es gewohnt, in die Schlusschoräle der Kirchenmusiken einzustimmen?

Das Choraltempo
Gottesdienstordnungen, Hinweise zur Aufführungsdauer, Traktate und Vorworte legen die Annahme nahe, dass der Choral im 18. Jahrhundert wesentlich langsamer gesungen worden ist, als wir es heute nachvollziehen können. Musik in der Kirche (entscheidend ist der Ort, nicht die Gattung!) vollzog sich in einem gemesseneren Tempo als weltliche Musik, und zwar wegen der Heiligkeit des Ort „à cause de la sainteté du lieu“, wie es in französischen Quellen heißt; ähnlich bei Mizler: „… geschickt zum heiligen Ort“. Wobei das Choraltempo nochmals wesentlich langsamer war als die (wie viel auch immer) langsamer bzw. ernsthafter musizierte Kantatenmusik. (Leininger)1 „Der Choral ist der einfachste und langsamste Gesang, der nur gedacht werden kann.“ (Württembergisches Choralbuch 1799)2

Eine Ahnung davon vermitteln bereits Tonaufnahmen aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Karl Straube z.B. gibt 1931 der Strophe aus BWV 11 „Nun lieget alles unter dir“ 2:09 Minuten Zeit.3 Das Lied „Lobe den Herren“ wurde 1911 im Tempo von ca. MM = 39 aufgenommen.4 Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, dokumentiert die Reihe „Old German Christmas Songs“ aus den Jahren 1910 – 1937.

1847 schrieb der badische Oberkirchenrat Bähr in der Ev. Kirchenzeitung: „Jede Silbe wird ohne Unterschied in der Dauer von etwa vier Pulsschlägen gesungen; auf der letzten Silbe der Verszeile erfolgt eine Fermate von 8 – 12 Pulsschlägen […].“5 1810 kritisierte Gerber das schleppende Choraltempo: Jede Silbe beim Kirchengesang „so lang auszurenken, dass man in derselben Zeit eine ganze Zeile von acht Sylben recitiren kann: das kann unmöglich die Erbauung, wol aber die Zerstreuung, befördern […].“6

Amish-Gemeinden bewahren ihre Traditionen seit der Auswanderung ab 1736. Zwei Aufnahmen des sog. Lobliedes im Versmaß 8.7.8.7.8.8.7. sind auf youtube zu hören: In einer Version dauert die 1. Strophe allein 4:40 Minuten! Neben dem Tempo ist die kräftige Tongebung bemerkenswert.7

Im Blick auf die meisten der barocken Choral“vorspiele“ mit durchgeführtem c.f. ergibt sich damit die Frage: Spiegeln sie tendenziell das damals übliche Sing-Tempo wider?

Praetorius dokumentiert 1619 das langsame Choraltempo lange vor Bach: 160 Takte ergeben eine Viertelstunde Musik. Wenn man von 2 Breven pro „Takt“ ausgeht, was allgemeinem Brauch der Zeit entspricht, wäre das pro Semibreve (heute als Halbe notiert) = MM 43. Da die Musik von Praetorius thematisch im Wesentlichen auf den Chorälen der Reformation basiert, könnte Praetorius‘ Angabe tatsächlich ein klarer Hinweis auf +/- MM 43 als Richtwert für das Choraltempo seiner Zeit sein. Choräle waren im 17. Jh. in Semibreven notiert; Bach schreibt dieselben Töne dann stets als Viertel und bezeichnet fast alle seine Choralsätze mit „C“…

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