Forum Kirchenmusik
Unter diesem Titel führte die Redaktion der Zeitschrift Musik&Ästhetik mit Paul Thissen, Pia Praetorius und Dominik Skala ein Gespräch über die momentane Situation der Kirchenmusik in Deutschland. Vom sich anschließenden „Dossier Kirchenmusik“, von Clytus Gottwald, wurde der letzte Teil, „Das Unaufhörliche“, gekürzt.
M&Ä: 2017 wurde in Deutschland die Reformation durch Martin Luther mit einem bundesweiten Feiertag begangen. Die evangelische Kirche ist stolz auf ihre Säulenheiligen Schütz, Bach und Mendelssohn Bartholdy. Die katholische Kirche beansprucht nicht zuletzt, die Basis der kunstvollen Mehrstimmigkeit in Europa gelegt zu haben. Aber die Geschichte der Kirchenmusik ist voll von kunstfeindlichen Restriktionen (u. a. gegenüber kunstvoller Mehrstimmigkeit!) und einer Angst vor der Attraktivität der Musik (seit Augustinus). Oft scheint es, als gehe es weder mit ihr noch ohne sie. Muss sie denn so sein, wie sie ist? Wir haben vier Köpfe zur Lage befragt.
Paul Thissen: Bevor ich zu den Fragen Stellung nehme, seien mir zu Ihrer in der Einleitung formulierten These, die »Geschichte der Kirchenmusik« sei »voll von kunstfeindlichen Restriktionen« einige Anmerkungen gestattet. Sogenannte »kirchenamtliche Verlautbarungen« zur Musik in Liturgie und Kirchenraum sind äußerst rar, und sie haben der Kirche den Ruf eingebracht, musikalischen Neuerungen gegenüber unaufgeschlossen zu sein. Oberflächlich betrachtet ist diese Aussage zweifellos richtig, schaut man aber einmal genauer hin, muss am Ende ein differenzierteres Urteil stehen. 1322 z. B. glaubte Johannes XXII. (1316-1334) mit dem Dekret Docta sanctorum gegen den angeblichen Missbrauch der Musik im Gottesdienst vorgehen zu müssen und kritisierte vor allem die Errungenschaften der Ars nova. Erstaunlich ist, dass dieses Dekret in entscheidenden Punkten auffällige Parallelen zu Passagen des Speculum musicae des Musiktheoretikers Jacobus von Lüttich aufweist, der ein erklärter Gegner der Ars nova war. Inwiefern Jacobus sogar Einfluss auf den Papst genommen hat, sei einmal dahingestellt. Entscheidend ist vielmehr, dass man in dieser Gemengelage erstmals eines Phänomens gewahr werden kann, das gleichsam eine historische Konstante darstellt, des Phänomens nämlich, dass die im inneren kirchlichen Zirkel formulierten und so häufig inkriminierten Gedanken zur Kirchenmusik weniger Zeugnis einer reaktionären Haltung ihrer Verfasser als vielmehr Emanationen des allgemeinen zeitgenössischen ästhetischen bzw. musikästhetischen Diskurses sind. Beispielhaft sei das 19. Jahrhundert in den Blick genommen. Wesentlich einflussreicher als päpstliche Dekrete oder Konzilsbeschlüsse waren die kirchenmusikalischen Restaurationsbewegungen. Sie entstanden allerdings vor allem auf private Initiative hin und zeugen zudem keinesfalls von einer in besonderer Weise ausgeprägten rückwärtsgewandten Sicht kirchlicher Kreise, sondern repräsentieren innerhalb des zeitgenössischen ästhetischen Diskurses durchaus einen common sense. So wurde der in ganz Europa als Opernkomponist gefeierte Gasparo Spontini mit seiner Schrift Editio contro l’abuso delle musiche teatrali introdotto nelle chiese (1838) zu einem Wortführer der kirchenmusikalischen Reform in Italien. In Deutschland war es nicht die Kirche, sondern vorwiegend die literarische Bewegung der Frühromantik, die die sog. klassische Vokalpolyphonie als kirchenmusikalisches Ideal proklamierte. Für E.T.A. Hoffmann z. B. begann mit Palestrina »die herrlichste Periode der Kirchenmusik«. »Aus der Kirche«, so bedauert Hoffmann, »wanderte die Musik in das Theater, und kehrte aus diesem, mit all dem nichtigen Prunk, den sie dort erworben, dann in die Kirche zurück.« An diese Gedanken knüpft schließlich mit seiner 1824 publizierten Schrift Über die Reinheit der Tonkunst Justus Thibaut an, der weder Musiker noch katholischer Konfession war, sondern Jurist und evangelischer Christ. Die Gründung des »Cäcilienvereins« 1868 steht erst am Ende dieser Entwicklung…