Konzertsaal als Kathedrale?
Ein Jahr (geistliche) Musik in der Elbphilharmonie – ein Rückblick
Von Herbert Glossner
Beethovens Neunte und abends in „Die Fledermaus“. So tönt gemeinhin der Jahreswechsel in deutscher Hochkultur. Ganz anders die Silvesterkonzerte des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter Generalmusikdirektor Kent Nagano. Im Zentrum standen diesmal die Bachkantaten O Ewigkeit, du Donnerwort BWV 20 (Eingangschor)/BWV 60 (komplett) und Mozarts Krönungsmesse KV 317. Michaelis-Kantor Christoph Schoener hatte die Werke mit seinem Chor einstudiert und spielte selbst an der Klais-Orgel der Elbphilharmonie zwei Stücke von Jehan Alain, nachdem das berühmte „The Unanswered Question“ von Charles Ives die Matinee eröffnet hatte. Nagano stellte in einer kurzen Ansprache den Zusammenhang zwischen offener Zukunft am Jahreswechsel und den tröstlichen Texten her. Darin wird zweierlei deutlich: einmal die Bedeutung geistlicher Werke in Konzerten, die mit Beginn der neuen Staatsopernleitung von Kent Nagano und Intendant George Delnon (nicht nur) an Silvester auffällt (2015 unter anderem Kyrie – Christe – Kyrie aus Bachs h-Moll-Messe, die Ekklesiastische Aktion von Bernd Alois Zimmermann, Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne, 2016 Jauchzet Gott in allen Landen BWV 51, Mozarts Exultate, jubilate KV 165, Symphonie Nr 4 „Das Gebet“ von Galina Ustwolskaja, beide Male noch in der Laeiszhalle); zum anderen der Anteil geistlich, zumindest religiös grundierter Kompositionen am Programm der Elbphilharmonie. Das begann am 11. Januar 2017 mit dem Eröffnungskonzert: Zwar war die Motette „Quam pulchra es“ von Jacob Praetorius nur ein Tupfer in einer vielfältigen Mischung, doch kreiste das Auftragswerk von Wolfgang Rihm um den Tod, mit dem bezeichnenden Titel „Reminiszenz, Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahn“. Zwei Tage später folgte auf Thomas Hengelbrock (NDR Elbphilharmonieorchester) Kent Nagano mit der Uraufführung „Arche“ von Jörg Widmann, ein abendfüllendes Oratorium, das vom biblischen Schöpfungsbericht quer durch die Literatur bis zum Dona-nobis-pacem-Kanon reicht. Und innerhalb einer Woche gab es noch Mendelssohns Sinfonie Nr. 2 „Lobgesang“, Beethovens Missa solemnis und Haydns „Die Schöpfung“. Auf den Tag genau ein Jahr nach der Eröffnung – gefeiert mit einer neunstimmigen Geburtstagsfanfare von neun Posaunen und vier Hörnern – dirigierte Herbert Blomstedt die NDR-Philharmoniker: nach der teils unverbindlich geratenen Es-Dur-Sinfonie, KV 543, von Mozart um so eindringlicher die Sinfonie Nr.3, d-Moll (Urfassung) von Anton Bruckner. Ohne Partitur, ohne Stab arbeitete der 90jährige die mystischen und hymnischen Momente dieses nicht nur von Richard Wagners Musik, sondern auch von Bruckners Religiosität zutiefst durchdrungenen Werkes heraus; und das Orchester konnte seine Qualitäten entfalten.