Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meldung und Meinung – diese beiden Textgattungen sollten im Journalismus stets getrennt bleiben, ein Grundsatz, der auch für das FORUM KIRCHENMUSIK gilt. Da das „Editorial“ der Meinungs-Textgattung zuzuordnen ist, erlaube ich mir immer mal wieder (m)eine Meinung deutlich kund zu tun. Diesmal muss ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, allerdings enttäuschen, denn zu dem diesmal angesprochenen Thema habe ich – zumindest noch – keine Meinung. Umso mehr hoffe ich auf Meinungsäußerungen von Ihnen!
Es geht um das kommende neue Gesangbuch. Einen Tag vor der offiziellen Vorstellung des neuen Gesangbuch-Designs durften wir Mitglieder des Zentralrats der Kirchenmusikverbände schon mal in die entsprechenden Entwürfe reinschauen. Der Referent stellte uns den Entwicklungsgang vor und beschrieb die Wege der bisherigen Erhebungen und der kommenden Erprobungen.
Ich gestehe, dass mir das vorgestellte Design und das dahinter stehende Konzept gefallen hat und die Begeisterung, mit der uns das Konzept vorgestellt wurde, hatte etwas Mitreißendes. Nicht zuletzt wurde aber auch deutlich: Hier ist ein gewaltiger Tanker unterwegs, der – Stichwort elektronische Verfügbarkeit – im Laufe der Fahrt immer größer wurde (ich weiß: Das Bild ist schief) und nichts und niemand kann ihn mehr stoppen. – Nicht einmal die Realität. Um den Gesangbuch-Vortrag drapiert waren die Berichte des Präsidenten und aus den einzelnen Landeskirchen. Hier ein paar stark verkürzte Stichpunkte: Kurhessen-Waldeck muss seinen Etat um 50 (!) % reduzieren. Württemberg muss eine Milliarde einsparen; die pfälzische Landeskirche will ernsthaft eine Fusion mit der Nachbarkirche prüfen; in nahezu sämtlichen Landeskirche erweisen sich die bisherigen Bezirks-und Gemeindestrukturen als nicht mehr tragfähig und/oder finanzierbar und überall nehmen Fusionsbestrebungen ihren Lauf. Das alles kann man für Einzelereignisse halten, für an sich nicht so bedeutend, genau wie die Information, dass die GEMA beabsichtigt, das Singen im Gottesdienst künftig als musikalischen Vortrag zu bewerten, weil vielerorts nur noch die beiden liturgisch Verantwortlichen, also Pfarrer und Kirchenmusiker musizieren, alle anderen aber zuhören würden.
So absurd das klingt, mussten doch viele der Anwesenden anerkennen, dass dies vor allem bei Kasualien (sofern da überhaupt noch life musiziert wird) tatsächlich der Fall sei. Angestoßen wurde der Gesangbuchprozess im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 – wohl wissend, dass ein solches Projekt ein Jahrzehnt-Projekt und womöglich die letzte Chance für ein EKD-weit gemeinsames Gesangbuch ist. Ich persönlich glaube, dass diese Entscheidung damals richtig war. Ich bin mir allerdings unsicher, ob sich die Grundlagen dieser Entscheidung nicht so fundamental geändert haben, dass man sie noch einmal überdenken sollte.
Auch wenn man es nicht mehr hören kann: Nicht zuletzt die seinerzeit beim besten Willen nicht vorhersehbare Pandemie war ein sehr wirksamer Katalysator bei diesen (gesellschaftlich und kirchlich überwiegend negativen) Veränderungen.
Dass eine der süddeutschen Landeskirchen ernsthaft darüber nachdenkt, mit einer anderen zu fusionieren, dass die GEMA den gottesdienstlichen (Nicht-)Gesang als Vortrag wahrnimmt und dass dies keine völlig abwegige Behauptung ist, dass in sämtlichen Landeskirchen Gemeinden und Kirchenbezirke/-kreise tatsächlich fusionieren und dies nicht nur in Planspielen a la „Kirche 2035“ stattfindet – das alles war 2017 ebenso wenig abzusehen, wie die (nicht nur aber auch) von Missbrauchsskandalen befeuerten Turbo-Austrittszahlen, die die Kirchen Jahr für Jahr um Hunderttausende kleiner werden lassen und mancherorts zu Gottesdiensten mit niedrig-einstelligen Besucherzahlen führen, sofern die Gottesdienste nicht gleich gestrichen werden.
Ein neues Gesangbuch zu erstellen, ist vor allem eines: Sehr teuer. Verglichen mit den gewaltigen, an die Urheber/Rechteinhaber zu zahlenden Lizenzgebühren und den wegen der um ein Mehrfaches gestiegenen Papierpreise sehr hohen Druckkosten, sind die bisher entstandenen Kosten Peanuts. Aber das ist für mich nicht das Hauptproblem. Meine Anfrage ist eher inhaltlicher Natur: Ist es in Zeiten immer weiter auseinanderdriftender Praktiken der Religionsausübung sinnvoll, ist es überhaupt möglich, ein Gesangbuch zu schaffen, dass den „Feiert-Jesus“-Fans ebenso zusagt wie der klassischen 10.00 Uhr-Sonntagsgottesdienst-Gemeinde? Diese Frage hätte ich selbst 2017 tatsächlich anders beantwortet als ich es heute tun würde.
Natürlich sind auch im aktuellen Gesangbuch zahlreiche Lieder enthalten, die wenig bis gar nicht gesungen werden. Aber ist der Versuch, ein eierlegendes Wollmilch-Gesangbuch zu veröffentlichen wirklich tragfähig? Werden womöglich beide Fraktionen ein sehr teures Produkt (und das ist auch ein Gesangbuch letztlich) ablehnen, weil sie mit der Hälfte der Lieder von vorneherein nichts anfangen kann oder will? Wäre es nicht denkbar, das alte Gesangbuch zu behalten und ein EKD-weit verpflichtendes
Zusatz-EG inkl. aller elektronischen Weiterungen zu erstellen?
Wie gesagt: Ich stelle nur Fragen und habe mir selbst noch kein Urteil gebildet. Aber fragen wird man ja noch dürfen, oder? Und vielleicht ein paar Antworten durch unsere Leserschaft erhalten?
Wie auch immer. Bleiben Sie fröhlich,


Ihr
Carsten Klomp

Schreibe einen Kommentar