Grenzen des Gemeindegesangs
Was geht wann, wo und wie?
Von Andreas Marti
Gemeindegesang ist musiksoziologisch gesprochen: „Massengesang“, unbeschadet der Tatsache, dass in manchen Gottesdiensten ja nicht gerade Volksmassen versammelt sind: Der Gesang ist nicht direkt angeleitet, es gibt im Prinzip – von Ausnahmen abgesehen – kein gesondertes Einüben und Proben. Damit unterscheidet sich der Gemeindegesang grundsätzlich vom Chorgesang und von organisierten und geführten Settings wie etwa einem „Offenen Singen“. Freilich übernimmt die Orgelbegleitung eine Art der Führung, doch geschieht diese mehr implizit und indirekt. Von da her stellen sich strukturelle Anforderungen an das, was gemeinsam gesungen wird. Der Verlauf muss koordiniert werden durch gemeinsame Zäsuren in einigermaßen regelmäßigen Abständen, durch gut erkennbare Formteile und durch nicht zu große Unterschiede in den Notenwerten. Das sind die Stärken des Strophenliedes mit mehr oder weniger regelmäßiger Zeilenstruktur und deutlichen Zäsuren zwischen Zeilen, Zeilengruppen und Strophen. Textliche und musikalische Schwerpunkte stimmen im Wesentlichen überein, die rhythmische Gestaltung bedient sich vorwiegend einfacher Muster, der Endreim schafft formale Klarheit und Orientierung. Die regelmäßige Strophenform, erst recht die gereimte, hat ihren historischen Ort ab dem späteren Mittelalter und der Frühneuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Dann wird sie in der artifiziellen Literatur abgelöst durch freie Formen (schon Goethe hatte damit Ende des 18. Jahrhunderts experimentiert). Somit ist die für den Gemeindegesang geeignete Form immer schon ein Ding von gestern. Sie stellt eine Herausforderung für heutige Textautorinnen und-autoren dar, die Ansprüche an die Aktualität der literarischen Gestalt stellen. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma ist die Verwendung von in sich unregelmäßig geformten Strophen, zum Beispiel in Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel der kommt von Kurt Marti. Ein anderer Weg ist die Steigerung der Strophenform zur Reihenform, bei der in jeder Strophe gleiche Satzstrukturen und Wortgruppen an gleicher Stelle wiederholt werden, so dass die Gleichheit der Form eine inhaltliche Legitimation erhält. Ein Beispiel dafür ist Komm in unsre stolze Welt von Hans Graf von Lehndorff. Die Grenzen der konventionellen Strophenform überschreiten diejenigen Neuen Geistlichen Lieder, welche den Text nicht von einer gleichmäßig durchgehenden Melodie tragen lassen, sondern ihn stückweise in einen für sich bestehenden rhythmisch-harmonischen Verlauf einbauen, unterbrochen durch instrumentale Passagen und dazu häufig frei zwischen den Pulsschlägen rezitierend. Als musikalisches Konzept ist das durchaus gültig, jedoch für die Praxis nicht unproblematisch, weil dem sich selbst organisierenden „Massengesang“ die Orientierungsmarken fehlen.Schauen wir uns das „Setting“ des durchschnittlichen Gemeindegesangs an…