Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich schreibe diesen Text knapp zwei Wochen vor den Bundestagswahlen. Sie lesen ihn aber frühestens fünf Wochen nach der Wahl, wissen also viel mehr als ich jetzt. Unabhängig von den zahlreichen inhaltlichen Unterschieden zwischen den zur Wahl stehenden Parteien, sind diese sich zumindest in einem Thema jedoch recht einig: dem dringend notwendigen Bürokratieabbau (für den nach der Wahl womöglich ein eigenes Ministerium mit zwei Staatssekretären und ca. 600 beamteten Mitarbeitern eingerichtet wird…).
Vor ein paar Tagen war ich mit dem „Innenstadtmanager“ Wertheims zum Kaffee verabredet. Wir wollten uns über gemeinsame Veranstaltungen unterhalten und Terminüberschneidungen ansprechen bzw. vermeiden. Am Ende des Kaffees geschah etwas für mich absolut Erstaunliches: Herr Sch. sagte dem Kellner: „Schreiben Sie’s bei der Stadt auf.“
Wie bitte? Keine vierseitigen Formulare, auf denen ich meine (und er seine) Kuchenauswahl nebst Inhaltsstoffen, Unverträglichkeiten und Selbstbehalt ausfüllen und begründen muss? Gut, ich hatte vorsichtshalber auf die Sahne zum Kuchen verzichtet – aber trotzdem: So ganz ohne steuerliche Meistbegünstigtenklausel und geldwerten Vorteil, ohne Antrag und Durchschlag? Absolut bemerkenswert!
Ich habe vorsichtshalber nicht gefragt, welchen Papierwust Herr Sch. würde ausfüllen müssen, wenn er die heiligen Stadt-Hallen betreten würde. Ich ging einfach Kaffee- und Kuchen-beschwingt meiner Wege Richtung Kantorat – wo meine Sekretärin mit Augenrändern über dem landeskirchlichen Statistikbogen saß, der, weiß der Geier warum, sowohl elektronisch als auch in Papierform dem Evang. Oberkirchenrat zu übermitteln sei.
Um diesen Statistikbogen mit dem leicht nachvollziehbaren Namen „Statistikbogen 2“ auszufüllen, bedurfte es eines Einblickes in das sog. Sachbuch des Bezirkskantorats, dessen Name sich, anders als beim Statistikbogen 2 sofort erschließt, umfasst dieses doch alleine für das Bezirkskantorat Wertheim 26 Seiten.
Weniger geht auch nicht, denn es enthält – ich habe nachgezählt – tatsächlich 62 (in Worten: zweiundsechzig) verschiedene Haushaltsposten, darunter zahlreiche, deren Beträge im unteren bis mittleren zwei(!)stelligen Bereich liegen. Ok, nach dem Komma sind es nochmal zwei Stellen…
Das alles benenne ich pars pro toto, davon ausgehend, dass es in anderen Landeskirchen kaum besser ist. Im Gegenteil: Bei einem Konzert im Mainzer Dom musste ich vor zwei Jahren einen 16-seitigen Honorarbogen ausfüllen, in dem z.B. gefragt wurde, ob ich in meiner Eigenschaft als freischaffender Musiker eine eigene Homepage besitze. Als ehrliche Haut, die ich bin, habe ich dies natürlich verneint. Schade eigentlich, denn womöglich hätte ich in diesem Fall einen 3,7 Cent Freischaffender-Homepage-BesitzerInnen-Honorar-Zuschlag bekommen. Oder wenigstens eine Steuergutschrift in entsprechender Höhe.
Nach solchen Erfahrungen kann ich jedenfalls die mir bekannten und eigentlich dringend gesuchten Organisten verstehen, die sich weigern, GottesdienstVertretungen zu spielen, nicht, weil das Honorar zu niedrig ist, sondern weil sie einfach keine Lust haben, die gleiche Zeit wie für die Gottesdienstvorbereitung für die Bürokratie-Nachbereitung aufzuwenden.
Ja, es stimmt: Zahlreiche bürokratische Anforderungen werden den arbeitgebenden Kirchen von außen aufgedrängt. Das gilt für den Bereich der Sozialversicherungen womöglich noch mehr als für die durch die Steuergesetzgebung erforderliche Bürokratie. Es stimmt aber leider auch, dass zahlreiche lokale und regionale Kirchenverwaltungen jeweils auf ihrer eigenen Bürokratie bestehen, behauptend, dass nur die von ihnen verwendeten Formulare die einzig korrekten seien und dass der Datenschutz eine bessere innerkirchliche Vernetzung leider unmöglich mache.
Aber auch, wenn es manchmal schwer fällt: Bleiben Sie fröhlich,
Ihr
Carsten Klomp

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