Musikgeschichte

Ein „sehr neuer Ton“ – zum 125-Jahr-Jubiläum des Weihnachtsoratoriums von Heinrich von Herzogenberg
Von Konrad Klek

Stefan Zweig hat die Komposition des Messias durch G.F. Händel in nur drei Wochen zu einer „Sternstunde der Menschheit“ stilisiert. Alle, die dieses Standardwerk schon einmal mit dem Chor einstudiert oder mitgesungen haben, wissen, dass es da teilweise eklatante Schwächen in der Stimmführung (z.B. im Alt) gibt, die das Einstudieren so erschweren, dass die Reaktion naheliegt: „Hätte Mr. Handel sich doch mehr Zeit genommen!“ Es gibt ein weiteres Drei-Wochen-Oratorium, das solche Schwächen nicht aufweist und in seiner Einzigartigkeit „Sternstunden“-Status verdient hätte – das vor 125 Jahren, im Sommer 1894 im Schweizerischen Heiden (Appenzeller Land) entstandene Weihnachtsoratorium Die Geburt Christi op.90 von Heinrich von Herzogenberg (1843-1900).

Zur Vorgeschichte
Der Straßburger Theologieprofessor Friedrich Spitta (1852-1924) wollte – zusammen mit seinem Freund und Kollegen Julius Smend (1856-1930) – neue Ideen von evangelischer Kirchenmusik umsetzen. Auf der Suche nach Komponisten, die sich für liturgisch integrierte Musik einsetzen könnten, war er an Herzogenberg verwiesen worden von seinem älteren Bruder Philipp Spitta (1841-1894), der als Musikwissenschaftler und Hochschulkanzler in Berlin wirkende, berühmte Bach-Biographen. Der aus Graz stammende Herzogenberg, mit Philipp Spitta eng befreundet, war seit 1885 in Berlin Kompositionsprofessor und eigentlich überhaupt kein „Kirchenkomponist“, zudem katholisch. Im Fahrwasser seines Idols Johannes Brahms schrieb er viel Kammermusik, Klavierstücke und Lieder, auch Symphonisches. Allerdings war er speziell mit Chormusik vertraut durch seine fast zehnjährige Chorleitertätigkeit im Leipziger Bach-Verein, der 1875 auf Anregung des kurzzeitig in Leipzig tätigen Ph. Spitta gegründet worden war, um in der Bach-Stadt das Kantatenschaffen bekannt zu machen. So bewegte sich Herzogenberg auch in einer Bach-Spur, die sein eigenes Schaffen zunehmend prägte. Als chorsymphonisches Meisterstück brachte er 1887 eine halbstündige Vertonung von Versen des 94. Psalms (vgl. die Orgelsonate von J. Reubke!), sein op.60, heraus für vier Soli, zwei Chöre, Orchester und Orgel, wo man in einzelnen Sätzen die Vorbilder Bach, Mendelssohn, Händel gut erkennen kann, transformiert in eine beeindruckende chorsymphonische Klangsprache. Es folgte als „Gelegenheitskomposition“ die 15-minütige Festmusik zur Kaisergeburtstagsfeier der Preußischen Akademie der Künste im Januar 1891, Königspsalm op.71 für Chor und Orchester über klug ausgewählte Verse aus den Jahwe-Königspsalmen. Das ging dem Komponisten so leicht von der Hand, dass er gleich noch ein Requiem op.72 schrieb und dies sogar direkt in die Partitur notierte. Die Uraufführung im Februar 1892 in der Leipziger Thomaskirche nahm Ph. Spitta zum Anlass, seinen bald 50-jährigen Komponistenfreund in der Öffentlichkeit vorzustellen, getarnt als Überblick über zeitgenössische Requiem-Vertonungen unter dem Titel Musikalische Seelenmessen.[1] Besonders verzückt von diesem Opus war Gattin Elisabeth von Herzogenberg, geb. von Stockhausen, der Forschung als wichtige Briefpartnerin von J. Brahms bekannt, eine hochbegabte, aber nicht professionell tätige Musikerin, mit der Herzogenberg eine ideale „Künstlerehe“ führte…

 

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