Stimmbildung

Resonanzen statt Vokale
Mit wenig Aufwand auf ein neues Klangniveau
Von Wolfgang Saus

Anders hören
Um über die Vokale eine reine Intonation zu erzielen, muss man eine spezielle Hörweise entwickeln, die erstaunlicherweise nur etwa 5 % der Menschen spontan entwickeln: das Obertonhören. Immer wieder sind gerade Profimusiker erstaunt, wenn sie nach einer kurzen Hörübung tatsächlich etwas hören, von dessen Existenz sie bisher nicht gewusst haben. Diese Hörübung1 können Sie jetzt gleich machen (s. QR-Code rechts). Was man nach dieser Hörübung wahrnimmt, sind die „charakteristischen Vokaltöne“, die Hermann von Helmholtz bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als „Resonanztöne“ beschrieben hat.2 Diese Vokalresonanzen für den Chorklang zu nutzen, kann man in einigen Wochen oder sogar Tagen lernen. Dadurch gelangt mit wenig Aufwand nicht nur die Intonation auf ein neues Niveau, sondern auch der gesamte Chorklang. Denn die Resonanzen sind gleichzeitig für die Tragfähigkeit der Stimme und für die Homogenität verantwortlich. Ich habe lange versucht, Chorleitern diesen Zusammenhang über die Obertöne zu vermitteln. Erst 2005 fand ich die Ursache, warum dieses Wissen wenig verbreitet ist: Die Arbeitsgruppe um Peter Schneider an der Uniklinik Heidelberg entdeckte, dass es unter Musikern sogenannte Grundton- und Obertonhörer gibt.3 Ich gehöre zu den extremen Obertonhörern. Die meisten Musiker hören anders als ich. Aber wie Sie anhand der Hörübung selber erlebt haben, kann man es in wenigen Minuten lernen. Sobald man ihre innere Toninformation wahrnimmt, bekommen Vokale eine neue Bedeutung. Man versteht, warum man beim Singen andere Vokale verwendet (und verwenden muss) als beim Sprechen, und warum der Unterschied mit der Singhöhe immer größer wird. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung erreicht man einen einheitlichen und homogenen Klang nicht dadurch, dass alle denselben Vokal singen, sondern in den meisten Fällen muss die Vokalfarbe in jeder Stimmlage anders gewählt werden. So kann es sein, dass im Bass das Wort Amen als [ɑmœn] gesungen wird, während der Alt [amæn] singen muss, damit der Vokal im Gesamtklang homogen und identisch klingt. Üblicherweise werden Gesangsvokale mit Sprechvokalen verglichen. Das ist aber unzureichend und funktioniert nur bei tiefen Stimmlagen. Gesang liegt im Schnitt ein bis zwei Oktaven über der Sprechstimme, und besonders bei hohen Stimmen weichen die Gesangsvokale erheblich von Sprechvokalen ab. Das geht so weit, dass ab einer bestimmten Tonhöhe Vokale wie [i] und [u] nicht mehr singbar sind, und oberhalb g2 gibt es nur noch Varianten von [a]. Je höher man singt, desto mehr weichen die Gesangsvokale von den Sprechvokalen ab. Das betrifft also vor allem Kinder- und Frauenchöre.
Resonanzen statt Vokale
Beim Singen geht es weniger um den Vokal als um die Resonanz. Resonanz verstärkt die Teiltöne des Stimmklangs. Deshalb werden beim Singen die Resonanzen auf Teiltöne abgestimmt. Solange man dabei intuitiv vorgeht und die Motorik vom Sprechen ableitet, hat man nur wenig Kontrolle…

Schreibe einen Kommentar